Impulsreferat von Hans-Karl Peterlini bei der Bildungskonferenz von Kolping Österreich am 8. Oktober 2022 in Linz
Univ.-Prof. Dr. Hans Karl Peterlini, ist Erziehungswissenschaftler an der Universität Klagenfurt und dort auch am „Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung“ tätig sowie Lehrstuhlinhaber für „Global Citizenship Education - Culture of Diversity and Peace" im Rahmen der UNESCO.
Ich bedanke mich sehr, dass ich vor dieser so wertvollen und sozial aktiven Gemeinschaft sprechen kann, bei einer Tagung mit einem so wichtigen Thema.
Seit dem 24. Februar dieses Jahres sind siebeneinhalb Monate vergangen, und ich habe in dieser Zeit versucht, die Stimmung, die Art der Berichterstattung, die politischen Aussagen zum Krieg gegen die Ukraine wahrzunehmen – es ist keine systematische Protokollierung dieses Grauens, eher ein eigenes Hineinfühlen in eine Zeit, von der es am Anfang geheißen hat: Es findet wieder Krieg statt in Europa.
Diese erste Betroffenheit ging tief, sie hat Menschen in meinem Umfeld und auch mich selbst bis in den Alltag hinein beschäftigt, sie war begleitet von einer Solidaritätswelle für die Geflüchteten, wie sie vielleicht 2014 (damals leider nur sehr kurz) zu verzeichnen war, von blau-gelben Fahnenmeeren und von einer medialen Aufmerksamkeit für die Ungeheuerlichkeit des Krieges, für das Leid, das schon mit den ersten – wie sagt man so nüchtern – Operationen verbunden war.
Diese Stimmung ist schneller abgekühlt, als ich es mir erwartet hätte – die mediale Berichterstattung ging vielfach in eine Ereignischronik von hohem Spannungswert über, fast wie Sportberichterstattung, wer hat wo viele Niederlagen erlitten oder zugefügt, einen Frontdurchbruch geschafft oder einen Rückschlag hinnehmen müssen. Wie schnell das auch in die Alltagswahrnehmung durchschlug, überraschte mich an einer vielleicht banalen Episode, die aber für mich die allgemeine Stimmung gut trifft, und die sich mit vielen anderen miterfahrenen Alltagsdiskursen überlagert – am Nebentisch in einem Gasthaus unterhielten sich Männer über den Krieg wie über das gerade laufende Formel 1 Rennen, es war viel von Technik die Rede, dann von einer Panne bei den amerikanischen Waffenlieferungen, die von russischen Truppen abgefangen wurde – „das ist ja zum Lachen, so was Depperts, die sind ja zu blöd…“, der Mann lachte wirklich und kam aus dem Lachen nicht mehr heraus, die Tischrunde lachte mit, als hätten sich zwei Autos ein- und desselben Rennstalls aus dem Rennen geworfen oder als hätte bei einem Fußballspiel die gegnerische Mannschaft ein Eigentor geschossen. Von einer Betroffenheit, dass es sich um Waffen zum Töten handelt, dass bei dieser „Panne“ vermutlich Menschen umgekommen sind, war nichts zu spüren.
Das war im Sommer, und seit Herbstbeginn verzeichne ich eine neue Stimmungslage, die den Krieg nicht mehr am Leid misst, das er auslöst, sondern an den Energiekosten für uns. Vielleicht findet gerade wieder ein Stimmungswechsel statt, seit Russland angesichts der ukrainischen Gegenoffensive mit dem Einsatz von Atomwaffen droht. Aber selbst in einer so unglaublichen Situation – wie vor zwei Jahren, als Kim Jong-un und Donald Trump sich darüber stritten, wer den größeren roten Knopf hat – scheint mir die Kunst der Verdrängung und Banalisierung sehr ausgeprägt.
Vermutlich tue ich vielen Unrecht, und natürlich allen hier im Saal, die an diesem Krieg noch inneren Anteil haben, mitfühlen, daran leiden, sich zermürben beim Gedanken, wie man das vermeiden hätte können oder noch stoppen könnte … aber die verbreitete Tendenz scheint jene zu sein, mit dem Grauen zurechtzukommen, es hinzunehmen, solange es nur nicht zu nahekommt, sich darüber hinweg zu witzeln.
Diese Kunst oder Gabe der Verdrängung – vielleicht ist es ein Fluch, weil wir damit das aushalten und hinnehmen, was wir nicht hinnehmen dürften – ist nicht neu, vermutlich haben wir zu lange damit gelebt, ohne es zu bemerken.
Wir haben ja geglaubt, in einem Jahrhundertfrieden zu leben, in einer Zeit, in der immer alles besser wird – wachsender Wohlstand, Abflachungen im Sozialgefälle, gesellschaftspolitische Öffnungen, jede Generation macht Bildungsschritte über ihre familiäre Tradition hinaus. Wenn wir ehrlich sind, ist diese Blütezeit nur aus einer realitätsverleugnenden eurozentrischen Perspektive zu Ende gegangen. In vielen Teilen der Welt fand sie nie statt. Und selbst hier bei uns war der Frieden vom Kalten Krieg überschattet. Diesen Begriff vom Kalten Krieg Begriff prägte George Orwell, der Autor von 1984 und Die Farm der Tiere, bereits 1945 im Essay „You and the Atomic Bomb”. Die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki waren ihm sichere Zeichen, dass sich Ost und West in einer atomaren Drohhaltung verfangen würden, die sie (hoffentlich) zwar vom gegenseitigen Vernichtungsschlag abhalten würde, aber nur „einen Frieden, der kein Frieden ist“ zulassen würde.
Die Welt war nie in Frieden, auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht, der eine ausreichende Lehre für die Menschheit sein hätte können. Wir haben Stellvertreterkriege mit teils wechselnden und widersprüchlichen Allianzen:
Korea (1950-1953), Vietnam (1964-1974), Angola (1975-2002), Äthiopien (1977-1978, jetzt mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen belastet), Afghanistan (ab 1979), Syrien (ab 2011). In Jemen (ab 2004) werden die Kriegsparteien von Saudi-Arabien auf der einen Seite, vom Iran auf der anderen Seite gestützt, die ihrerseits in Beziehung zu den Supermächten stehen.
Und wir haben die Fortpflanzung des Ost-West-Konflikts über Jahrzehnte bis in die europäischen Demokratien hinein. Der US-Imperialismus wurde von der 1968-er Bewegung als derart erdrückend empfunden, dass vereinzelte Gruppen nur mit Gewalt dagegen aufkommen zu können glaubten, vor allem die Rote-Armee-Fraktion in Deutschland und die BrigateRosse in Italien. Die RAF wollte am innerstaatlichen Imperialismus aus Solidarität zu unterdrückten Gruppen in der Welt (vor allem Südamerika, Palästina) den internationalen Imperialismus bekämpfen, bei den BR ging es stärker um die ausgebeutete italienische Arbeiterschaft. Beide Gruppen standen damit im Sog des hegemonialen Machtkampfes zwischen Ost und West, zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Wir wissen, dass aus dem Osten Geld in diesen Terror geflossen ist, um den Westen zu destabilisieren. Und umgekehrt wissen wir, dass von Seiten der Nato im Verbund mit den europäischen Geheimdiensten einiges unternommen wurde, um politische Linksbewegungen – so vor allem die starke Kommunistische Partei Italiens – durch rechte Putschversuche im Notfall zu verhindern, durch die Inszenierung von Attentaten möglichst aber schon vorher zu kriminalisieren. Der sogenannte asymmetrische Krieg durch Terrorakte und politische Destabilisierung nicht mehr an klaren Frontlinien, sondern im Inneren der Staaten) findet hier seine Vorläufer. Der europäische Jahrhundertfrieden war so gesehen ein Scheinfriede.
Ein vielleicht schräger Gedanke: Im Rückblick mutet es geradezu befremdend an, dass jemand in Europa in den Untergrund gehen würde, um dem ausgebeuteten Süden oder einer benachteiligten sozialen Gruppe zu helfen. Zu sagen ist, dass beide Bewegungen – RAF und Brigate Rosse – nicht von vornherein mordeten, es begann mit dem Versuch unblutiger Protestaktionen auch durch gezielte Sachschäden, wie im Übrigen auch die Attentate in den 1960er Jahren in Südtirol, von wo ich herkomme – die dann aber doch in die Eskalationsdynamik gerieten, die jeder Gewalt innewohnt, das möchte ich hier in aller Klarheit sagen, auch jener Gewalt, die zunächst Menschenleben schonen will – es kommt doch zu Toten, es kommt zu staatlicher Repression, zu Toten auch auf Seiten der Attentäter – und die Hemmungen fallen, jedes Mitgefühl mit den Gegnern stumpft ab.
Warum ich davon rede und was mich nachdenklich stimmt: Mit dem Sieg über den Terror sind die Problemlagen, die dieser ohne Zweifel mit falschen Mitteln bekämpfen wollte, nicht wesentlich verbessert worden.
Und noch nachdenklicher stimmt unsere heutige Lage, wenn wir anlässlich des Todes von Michail Gorbatschow zurückdenken, welche ungeheure Chance sich damals für eine neue Friedens- und Weltordnung auftat. Sie wurde nicht nur schlecht genutzt, sondern verspielt, indem sich der westliche Kapitalismus nach dem Scheitern seines Gegenmodells nicht etwa auf mögliche eigene Korrekturen besonnen hat, sondern sich zum Finanzraubtierkapitalismus entfesselte, gegen den Staaten ohnmächtig zu sein scheinen. Die soziale Schere innerhalb der Wohlfahrtsstaaten öffnet sich zunehmend, das globale Ungleichgewicht nimmt zu, die imperiale Lebensweise, wie Ulrich Brand und Markus Wissen unsere (noch) Selbstverständlichkeiten benennen, ist dabei, den Planeten zu ruinieren, vorerst allerdings die Heimaten jener, die am wenigsten zu Klimawandel und Umweltzerstörung beitragen, indem ganze Küstenlandstriche und Inseln zu verschwinden drohen. Als positive, gegenläufige Entwicklung sehe ich sozialökonomische und ökosoziale Ansätze wie den Fair-Trade-Markt, eine wachsende zivilgesellschaftliche Sensibilität, historisch bewährte Bewegungen wie etwa die Kolping-Gemeinschaft und junge Bewegungen, die aber alle eher ohnmächtig zuschauen müssen, wie die politischen Antworten halbherzig bleiben und weiterhin Rücksicht auf den nächsten Wahlkampf und mögliche populistische Stimmungen nehmen, als wäre die Dystopie, in der wir leben, ganz normal.
Was hat die Welt versäumt? Sie hat den Frieden nicht gepflegt. Für die jüngere Friedensforschung ist Frieden mehr als die Abwesenheit von Krieg, das wäre bestenfalls ein negativer oder passiver Frieden, wirklicher Frieden, wahrer Frieden, true peace, wie ihn Martin Luther King genannt hat, muss ein aktiver Friede sein, sonst wird er anfällig für neuen Krieg. Was ist ein aktiver Frieden? Der norwegische Friedensforscher Jan Galtung hat das noch einmal ausdifferenziert und den Begriff der strukturellen Gewalt geprägt, das wären Ausbeutungsverhältnisse, soziale Ausgrenzung, unwürdige und gesundheits-schädliche Arbeitsverhältnisse, verweigerte politische und gesellschaftliche Teilhabe, sprachlich-kulturelle Unterdrückung, Benachteiligung durch Geschlecht oder den gesellschaftlichen Vorgaben nicht entsprechende sexuelle Orientierung. Im Unterschied zu direkter Gewalt ist strukturelle Gewalt keiner personalen Täterschaft zuordenbar, wir können niemanden dafür vor Gericht stellen, weil diese Gewalt in gesellschaftlichen Strukturen der Ungleichheit und Diskriminierung grundgelegt ist, weil sie vielfach staatlich und gesetzlich legitimiert ist. Das Konzept ist nicht unumstritten, produktiv aber daran ist, dass Diskriminierung jedweder Art – lokal und global – als Gewalt verstanden wird, die für Menschen Leid und Unrecht bedeutet und nicht schicksalshaft, sondern gesellschaftlich, ökonomisch und politisch verursacht ist. Wenn wir auch nur einen einzigen ehrlichen Blick auf Wohlstandsverteilung und Belastungs-verteilung zwischen Globalem Süden und Globalem Norden werfen (nicht als geographische Begriffe zu verstehen, denn es gibt auch einen Globalen Norden im Süden und umgekehrt), dann leben wir in einer Welt der Gewalt, Thorsten Bonacker und Peter Imbusch sprechen von einer „gewaltförmigen Verfasstheit der Weltgesellschaft“.
Warum ist das so? Warum so viel Feindseligkeit, Konkurrenz, Ellenbogen. Ja: und warum Krieg? Diese Frage hat Albert Einstein 1932 in einem berühmten Brief an Sigmund Freud gestellt: „Gibt es einen Weg, die Menschen von dem Verhängnis des Krieges zu befreien? Die Einsicht, dass diese Frage durch die Fortschritte der Technik zu einer Existenzfrage für die zivilisierte Menschheit geworden ist, ist ziemlich allgemein durchgedrungen, und trotzdem sind die bisherigen Bemühungen um ihre Lösung bisher in erschreckendem Maße gescheitert.“ 1932 - Als wäre es heute geschrieben worden.
Zum einen erkennt Einstein, dass es auf internationaler Ebene keine effiziente Gerichtsbarkeit gab (und gibt, siehe die de-potenzierte UNO), die Streitfälle mit Autorität lösen könnte. Innerhalb der Staaten erkennt er wiederum die Macht von Lobbys, die am Krieg ökonomisch und politisch verdienen. Unverständlich aber ist für Einstein (und für uns), warum diese kleine, wenn auch mächtige „Minderheit die Masse des Volkes ihren Gelüsten dienstbar machen kann, die durch einen Krieg nur zu leiden hat“ (ebd. 18f). Eine Erklärung findet Einstein darin, dass die „Minderheit der jeweils Herrschenden […] vor allem die Schule, die Presse und meistens auch die religiösen Organisationen in ihrer Hand“ hat. Dadurch würden die „Gefühle der großen Masse“ geleitet. Bis zu dieser Überlegung hat Einstein letztlich strukturelle Ursachen für den Krieg genannt, nun wendet er sich psychologischen Fragen zu. Die Erfahrung, „dass sich die Masse durch die genannten Mittel bis zur Raserei und Selbstaufopferung entflammen lässt“, führt ihn zur Annahme einer destruktiven Veranlagung der Menschheit: „Im Menschen lebt ein Bedürfnis zu hassen und zu vernichten.“ Könne diese Anlage in ruhigen Zeiten unterdrückt werden, lasse sie sich im Ausnahmezustand leicht zur Massenpsychose steigern – und zwar ausdrücklich nicht nur bei den „sogenannten Ungebildeten“, sondern gerade auch unter den „sogenannten Intellektuellen“. Dies war eine Erkenntnis aus der Kriegsbegeisterung der sogenannten geistigen Elite bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
In seiner Antwort stellt Sigmund Freud ebenfalls die Problematik der politischen Ordnungen voran und führt dann erst „destruktive“ psychisch bedingte Strebungen an, denen schwer beizukommen sei, weil sie bei Unterdrückung oft noch stärker würden. Die einzige Möglichkeit, diesem Gewalt-, Zerstörungs- und Todestrieb Thanatos entgegenzuwirken, sei es letztlich, den Gegenspieler Eros oder schlicht die Liebe anzurufen: „Alles, was Gefühlsbindungen unter den Menschen herstellt, muss dem Krieg entgegenwirken.“
Damit spricht Freud einen Zugang an, der nicht nur für den Krieg unter den Menschen, sondern für das Zerstörungsverhalten von Menschen gegenüber Natur, Tierwelt, ja letztlich gegenüber dem ganzen Planeten einen Schlüsselmoment fokussiert – nämlich die Abspaltung emotionaler Bindungen zum jeweils Anderen entlang von politischen und gesellschaftlichen Ordnungen – Staat, Nation, Kultur, soziale Schicht – diese unsere Wir-Container gehen aus Abgrenzungen hervor, indem das Eigene von einem gedachten oder realen Anderen abgehoben wird. Vielfach liegt den Abgrenzungen jene Spaltung zugrunde, die der italienische Philosoph Giorgio Agamben in der Teilung Mensch-Tier grundgelegt sieht. „Die Festlegung der Grenze zwischen Humanem und Animalischem“ stellt für Agamben keine wissenschaftliche Einteilung dar, sondern „eine grundlegende metaphysisch-politische Operation, durch die allein so etwas wie ein ‚Mensch‘ bestimmt und hergestellt werden kann“. Damit ist eine Differenzlinie zwischen höherwertigem und niedrigwertigerem Leben entstanden, die sich als nun einmal geschaffene Denkfigur auch innerhalb der Menschheit fortsetzt und auch dort animalisierte Gruppen schafft, denen schlicht die Menschlichkeit abgesprochen wird und die folglich wie Tiere behandelt werden können. Sklaven, Lagerhäftlinge, gegnerische Kriegsparteien, Geflüchtete.
Möglich wird dies vor allem eine Besonderheit unserer Wahrnehmung der Wirklichkeit, die sich am besten als Dichotomie benennen lässt – vom Griechischen für Entzweischneiden. Die dichotome Wahrnehmung teilt die Wirklichkeit in Gegensatzpaare wie Mensch-Natur, Mensch-Tier, Geist-Körper, Vernunft-Trieb, Mann-Frau, Weiß-Schwarz, Normal-Behindert, Zugehörig-Fremd. Dies hilft uns, Komplexität zu reduzieren, uns in Großgruppen besser organisieren zu können, Regierbarkeit oder Herrschaft herzustellen, die letztlich unüberschaubare Wirklichkeit (vermeintlich) unter Kontrolle zu bekommen, aber um den Preis der Ausblendung von Ambivalenzen, Uneindeutigkeiten und Verbindungen zwischen den jeweils getrennten Hälften. Fast unvermeidlich wohnt jeder Zweiteilung die Dynamik einer Hierarchisierung inne, die beiden geteilten Hälften bleiben nicht in der Schwebe, sondern geraten in ein Machtgefälle, in eine Asymmetrie. Die eine Hälfte wird als Normalität gesetzt, von der die andere nur die mindere Abweichung ist, die Frau entstand aus Adams rippe und „Schwarz“ wird als Abweichung von Weiß als Normfarbe der Menschheit gesetzt.
Die dichotome Wahrnehmung ist eine messerscharfe gedankliche Operation. Sie hilft uns, das Leid all jener, die wir gedanklich aus unserem Wir abgespalten haben, zu ignorieren oder zumindest soweit abzuspalten, dass wir es verdrängen können, selbst bei Verstrickung in dieses Leid, da die Verstrickung durchtrennt wird. Die Tendenz, ‚Andere‘ so anders zu denken und in von uns abgespaltene Kategorien zu stecken, dass sie mit uns nichts mehr zu tun haben, hat den Holocaust ermöglicht, weil der Jude nichts mehr mit dem Arier zu tun hatte, obwohl beide nur gedankliche Kategorien waren; diese Tendenz legitimiert tiefe sozioökonomische Ungerechtigkeiten, Rassismus, Sexismus, Gender-benachteiligung, Diskriminierung gesellschaftlicher Minderheiten, die Solidaritätsverweigerung gegenüber Geflüchteten, die Ermordung der ‚Feinde‘ im Krieg. Die Dichotomien zerschneiden schlicht das Band des Verbundenseins und damit des Mitgefühls als Voraussetzung für ein solidarisches oder wenigstens sorgsames Handeln. Ähnliches gilt für den zerstörerischen Umgang mit der Natur und der Ausblendung von Tierleid etwa in der Massentierhaltung.
Was sich uns als Aufgabe stellt und zivilgesellschaftlich, politisch, medial eine Notwendigkeit ist, wäre die ständige Infragestellung, Anzweiflung, Verunschärfung von Eindeutigkeiten in der Wahrnehmung der Welt, denn diese sind Folgen von Abspaltung, von dichotomer Teilung der konkreten Wirklichkeit und des konkreten Anderen.
Da wo wir vor einem Entweder-Oder stehen, das uns auf diese oder jene Seite zieht, sollten wir misstrauisch werden und dieses Entweder-Oder anzweifeln. Krieg hat eine andere Dynamik, er zieht uns auf die eine oder andere Seite, das ist der Sieg der Kriegslogik über die Friedenshaltung. Natürlich kann es auf einer Seite mehr Unrecht geben, hat jemand angefangen oder greift jemand immer zu ärgeren Waffen, das muss nicht geleugnet werden, aber damit allein entkommen wir nicht der Dynamik der Feindseligkeit. Das Christentum ist aus der unerhörten Provokation der Gewaltlosigkeit und der Feindesliebe entstanden, tausendmal verraten, millionenfach selbst daran gescheitert. Tatsächlich lässt sich damit angesichts explodierter Gewalt schwer argumentieren: Hätte sich die Ukraine ergeben sollen? Hinnehmen?, dass vermutlich die Staatsspitzen verhaftet, wenn nicht erschossen werden, dass ihre demokratischen Strukturen militärisch ausgehebelt werden – glimpflich wäre es wohl nicht abgegangen, vielleicht hätte es mehr, vielleicht weniger Leid gegeben, vielleicht ist der Schrecken durch die militärische Gegenwehr früher beendet, vielleicht aber auch nicht, wir wissen es nicht. Was wir sehen ist, wie im Krieg immer der Krieg gewinnt, das Recht des Stärkeren, und das ganze Gerede vom anständigen oder gar sauberen Krieg, von Einhalten von Kriegsregeln ist ein verlogener Mythos – sobald Interessen durch das Töten des Anderen durchgesetzt werden sollen, ist es lächerlich von Regeln zu sprechen, wann und wie ich andere töten, ihre Häuser vernichten, ihre Kinder vertreiben kann. Diese Ächtung des Krieges als Mittel der Politik hat die Menschheit leider noch nicht geschafft.
Worum es aber gehen kann, ist sich dieser Logik zu widersetzen, das Mitdenken und Mitfühlen mit der anderen Seite nicht aufzugeben, trotz allem, auch bei realistischer Einschätzung von Schuldverteilung, nicht zu vergessen, dass auf der anderen Seite auch Menschen sind, denen die Freund-Feind-Logik Unrecht tut. Ein vielleicht banales Beispiel aus der Theaterdramaturgie: will man in einem Theaterstück die Antifigur, den Bösen, die Böse, das Böse glaubhaft darstellen, muss man auch diese Figur lieben, sonst missrät sie zur unglaubwürdigen Farce oder Fratze. Diese Haltung, verzweifelnd nicht damit aufzuhören, die Spaltung in Gut und Böse abzulehnen, ist nicht leicht, wir scheitern wohl viel dramatischer als Petrus, der zum Schwert gegriffen hat und danach seinen Herrn dreimal verleugnet hat – aber das Bemühen ist und bleibt wichtig, denn es ist die Voraussetzung, dass es zumindest nach dem Krieg wieder Versöhnung geben kann.
Noch wichtiger wäre es, dieses Bemühen vor dem Krieg stark zu machen, sich aufzulehnen, wenn Freund-Feindbilder konstruiert werden – wie im Kalten Krieg, wie im Vorfeld des Ukraine-Krieges, der sich ja schon länger angekündigt hat, die Kriegslogik nicht zuzulassen, statt – das unterstelle ich nicht, aber es eine sichtbare Begleiterscheinung, über die sich manche wohl die Hände reiben – statt zuzulassen, dass Militarismus, Waffengeschäfte, Aufstockung von Verteidigungshaushalten sprunghaft zunehmen, in einer Welt, die Geld, Mittel, Kreativität für den Frieden, für das Überleben der Menschheit bräuchte.
Auf die Frage, ob wir lieber im Krieg oder im Frieden leben, in einer gerechten Gesellschaft mit einem guten Leben für alle, wie es die Vereinten Nationen als Ziel inzwischen verbrieft haben, würde die Antwort wohl eindeutig ausfallen. Gewiss könnte es Argumente geben, warum jemand Krieg mitunter für unvermeidbar hält, Verteidigungskriege zum Beispiel oder weltpolizeiliches Eingreifen bei Aggressionen, aber es ist schwer vorstellbar, dass jemand lieber unter Gewaltbedingungen lebt als unter friedlichen, fairen, lebensfreundlichen Verhältnissen. Und doch geht so vieles, was Menschen tun, in die gegenteilige Richtung.
Wie kann das sein? Eine Antwort wage ich als Bildungswissenschaftler: Lernen, und damit meine ich auch gesellschaftliches, soziales, politisches Lernen und Umlernen, wird vielfach als Vorgang verstanden, der Freude machen muss, und gewiss ist es wichtig, dass Lernen Freude macht, weil dies motivieren kann. Ausgespart aber werden in diesen etwas kuschelpädagogischen Vorstellungen die Widerstände beim Lernen, vor allem beim Umlernen, dem sogenannten transformativen Lernen, wie es gerade ein Modebegriff ist: Jedes Lernen, das wirklich ein Neu- oder Umlernen ist, muss Vertrautes zumindest vorübergehend aufgeben, weil ich nur Neues lernen kann, wenn ich nicht am alten Wissensbestand festhalte, es führt damit über einen Abgrund des Nicht-Mehr und Noch-Nicht: Das Alte trägt nicht mehr, es ist brüchig, in Krise – diese Erfahrung machen wir mittlerweile in wohl ausreichendem Maß. Das Neue, eine solidarische Welt, ein solidarisches Wirtschaften, in der ich vielleicht etwas weniger habe und andere etwas mehr, aber alle zusammen gewinnen, weil es uns bessergeht, diese Welt kennen wir nicht oder haben wir verlernt, sie gehört nicht zu unserer Erfahrung, und selbst, wenn uns ein gutes Leben für alle angepriesen wird, macht es uns Angst. In psychotherapeutischen Zusammenhängen, wo es auch um Umlernen geht, ist dies oft der heikelste Punkt: Nicht einmal so sehr, das erfahrene Leid aufzuarbeiten, sondern sich dort hin zu wagen, wo es jemanden besserginge, aber die bisherigen Erfahrungen aufgegeben werden müssten, dass man es nicht verdient, geschlagen zu werden, dass man liebenswert ist, dass man auch ohne Nummer 1 zu sein einen Wert hat. Das, was eigentlich positiv wäre, verlangt die Negation des Vertrauten, das schmerzhaft war – und das macht oft am meisten Angst und wir scheuen zurück in die alten Gewohnheiten, die nicht gut sind, in denen wir uns aber auskennen – bis es halt nicht mehr geht, ein Zusammenbruch folgt, ein Suizid, wie jener, den wir gerade als Menschheit vielleicht noch nicht verüben, aber fast schon vor-üben.
Eine Welt, die sich der Gewalt vor dem Gewaltausbruch annimmt, die Ungleichheit ächtet, die Teilungen überall angreift zugunsten einer Mitverantwortung aller für alles, erst eine solche Welt wäre friedlich. Eine Utopie? Der französische Philosoph Jacques Derrida lehnte den Begriff der Utopie ab und setzte den Begriff des Un-Möglichen dagegen: „Ich mißtraue der Utopie, ich will das Un-Mögliche“, weil das Unmögliche nur die Verneinung von etwas ist, was möglich gemacht werden kann. Wir sollten es im Wissen um die Schwierigkeit, in der Vorahnung der Rückschläge, immer aufs Neue versuchen
Ich danke für die Aufmerksamkeit!