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Die inhaltliche Hinführung erfolgte durch vier hoch kompetente Expertinnen und Experten im Rahmen eines Impulsreferats, dreier Statements und einer Podiumsdiskussion.

Wir brauchen mehr Demokratie, nicht weniger, um die Herausforderungen lösen zu können, denen wir uns gegenübersehen: In ihrem Eröffnungsreferat nahm die Politikwissenschaftlerin und Sozialexpertin Margit Appel demokratiepolitische Herausforderungen und Orte der aktiven Mitgestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens in den Blick.

„Demokratie ist die einzige Staatsform, die gelernt werden muss“ – das ist ein berühmtes Wort des deutschen Soziologen Oskar Negt. Wenn manche meinen, wir hätten schon alles erreicht, was im Versprechen der Demokratie drinnen steckt, dann täuscht dieses Gefühl: das haben wir nicht. Diese Staatsform wurde bei uns in einem mühsamen Ringen geschaffen nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus und der 1. Republik und es lohnt, miteinander nachzudenken: Wie können wir immer noch vorankommen in diesem Auftrag, die Demokratie als die von uns gewählte Regierungsform zu verbessern.

Wir brauchen mehr Demokratie, nicht weniger, um die Herausforderungen lösen zu können, denen wir uns gegenübersehen. Unsere heutige Gesellschaft ist von Krisen gekennzeichnet. Wenn wir glauben, wir könnten diese besser lösen, indem wir uns in Richtung einer autoritäreren Regierungsform begeben, dann sei das, so Appel, ein großer Irrtum; es braucht eine Vertiefung und eine Ausweitung von Demokratie. Eine entscheidende Frage an uns alle ist: Sind wir aufmerksam genug für die Tatsache, dass unser demokratisches Zusammenleben immer wieder unsere Sorge braucht? Ohne die Sorge der Bürgerinnen und Bürger geht der Demokratie die Luft aus – und es besteht die Gefahr, dass wir uns in eine problematische Richtung entwickeln.

„Fremdeln“ mit der Gleichheit

Ich bin immer wieder erstaunt, wie Menschen zurückzucken, wenn sie das Wort Gleichheit hören und die Forderung, dass Demokratie das Versprechen ist, gleiche Lebensbedingungen für alle zu gewährleisten. Das „Fremdeln“ hat wohl damit zu tun, dass man Gleichheit mit Uniformität verwechselt, dass darunter ein Einebnen der Vielfalt, der bereichernden Unterschiede in unserer Gesellschaft verstanden wird.

Vielfalt ist wichtig, und dennoch gibt es, wenn es um Demokratie geht, diesen Wert der politischen Gleichheit: das Recht auf Teilhabe an der Gestaltung der Lebensbedingungen, die mich betreffen. Verfehlen wir dieses Ziel, gerät Demokratie zu einem verfehlten Versprechen. Für viele geht dann das Gefühl verloren, überhaupt in einer Demokratie zu leben und mit den eigenen Bedürfnissen und Interessen gesehen zu werden.

Die Folge einer solchen Entwicklung ist eine große Unzufriedenheit über die politischen Verhältnisse im Land und ein Vertrauensverlust: dem politischen System gegenüber, den zentralen Institutionen des Rechtsstaates, in weiterer Folge eine Stimmung der Verachtung gegenüber den politischen Repräsentantinnen und Repräsentanten; es wird schließlich auch im Alltag voll Verachtung über sie gesprochen, sie sind die Letzten, mit denen man „Pferde stehlen gehen“ würde. Das ist ein Phänomen, das wir in Europa mittlerweile aus allen westlichen Demokratien kennen. Dazu passt auch die Beobachtung, dass es eine immer höhere Anzahl von Menschen gibt, die sich vorstellen können, in einem autoritäreren System zu leben und die nichts dabei finden würden bzw. sogar Vorteile darin erkennen können.

Wir müssen also demokratiepolitisch besser werden! Stephan Lessenich, der ein empfehlenswertes Buch herausgebracht hat über die „Grenzen der Demokratie“, sagt, die „real existierende“ Demokratie sei ein großes „Schließungsspiel“, an dem wir uns alle beteiligen. Es ist nicht so, hält er fest, dass wir es in den modernen Demokratien geschafft hätten das oben beschriebene Recht auf politische Gleichheit durchzusetzen. Unsere Gesellschaften, auch hier im Österreich der 2. Republik, sind nach wie vor von bestimmten Machtverhältnissen gekennzeichnet ist. Es gibt einen Kampf um die Berechtigung, an den politischen Prozessen tatsächlich teilnehmen zu können. Das hängt auch damit zusammen, dass wir erst auf dem Weg sind, die „Schönheit der Gleichheit“ zu begreifen. Lessenich skizziert vier Achsen, auf denen diese Berechtigungskämpfe stattfinden:

  • Die erste Achse: Oben gegen Unten, Besitzende gegen Nichtbesitzende, Unterschiede zwischen sehr Vermögenden und solchen, die wenig haben. Die Reichen und Einflussreichen sehen schnell, wo es möglich ist, politische Entwicklungen mitzubestimmen oder unliebsame Entwicklungen zu stoppen. Das ist eine riesengroße Herausforderung für die Demokratie, weil alle anderen Gruppen viel weniger Einfluss haben als die Superreichen, ihre Interessen durchzusetzen.
  • Die zweite Achse: „Hinz gegen Kunz“, jeder gegen jeden; das ist der Kampf zwischen den Beherrschten um die Berechtigung zur Teilhabe. Wir befinden uns in einer Konkurrenzgesellschaft; wir alle konkurrieren um Status und Einfluss, um einen Platz in der Gesellschaft und um Anerkennung. Es ist uns schon wichtig, dass wir auf jemanden herabschauen können, dass wir es ein bisschen besser geschafft haben als andere Menschen oder Gruppen, und wir zögern, diese anderen hereinzulassen und sie an den Vollzügen und Dynamiken der Demokratie teilhaben zu lassen.
  • Die dritte Achse: Innen gegen außen, Staatsbürger*innen gegen Nicht-Staatsbürger*innen. Wir befinden uns immer noch im Modus der Nationalgesellschaft, nicht der Weltgesellschaft und es geht um eine Praxis der Exklusion. Diese ist offensichtlich in der Weigerung, bestimmte Menschen und Gruppen mit dem Wahlrecht auszustatten, wodurch sie des Rechts beraubt werden mitzureden über Angelegenheiten, die sie ganz massiv betreffen.
  • Die letzte Achse: Alle gegen Eine. So sehr wir im Hinblick auf die ersten drei Achsen gespalten sind, so sehr eint uns alle die Tatsache, dass wir uns darauf verständigt haben, alle gemeinsam die Natur zu entrechten. Unsere Demokratie ist eng verbunden mit einer Wohlstandserzeugung auf der Basis der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, wir sind eine Petro-Gesellschaft, die Gier nach fossilen Brenn- und Rohstoffen, die unseren Wohlstand erzeugen und erhalten sollen, ist tief in uns drinnen. Wir wollen nicht von dieser Praxis der Destruktion lassen, bei der wir das zerstören, wovon wir leben, und den Ast absägen, auf dem wir sitzen. Und gleichzeitig ist es etwas, was unsere Gesellschaft und unsere Demokratie zusammenhält, weil wir uns darauf verständigt haben, die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen nicht (zu) kritisch zu sehen, weil wir alle glauben wollen, dass dies unser in alle Ewigkeit verlängerbares Recht ist.

Lessenichs Fazit: Wir müssen uns darauf konzentrieren besser zu werden darin, das „große Schließungsspiel“ aufzubrechen. Dabei geht es, neben anderen Herausforderungen, darum, bestimmte Orte des sozialen Zusammenhalts als Kraftzentren der Demokratie neu zu entdecken; denn es gibt in unserer Gesellschaft eine Reihe von Orten, an denen Menschen in aller Vielfalt zusammenkommen und die für unsere demokratiepolitische Praxis großes Potential hätten:

(Potentielle) Kraft-Orte der Demokratie

Oft hört man, wir würden alle in unserer eigenen „Blase“ leben, niemand komme mehr mit anderen Menschen zusammen, die andere Meinungen vertreten; das hat eine gewisse Relevanz im privaten Bereich, aber an bestimmten Orten kommt es sozusagen unvermeidbar zu einer Konfrontation ganz unterschiedlicher Milieus. Zuvorderst ist hier die Arbeitswelt zu nennen.

Der deutsche Soziologe Axel Honneth hat letztes Jahr ein Buch („Der arbeitende Souverän“) vorgelegt, in dem er darauf aufmerksam macht: Wir haben Arbeitswelten, in denen Menschen sich sehr klein gemacht vorkommen, in denen sie den Eindruck haben, es ist nicht wichtig, was sie denken, man gibt sozusagen seine Selbstbestimmung ab, wenn man sich dem Broterwerb widmet – und wie sollen solche Menschen dann, so fragt Honneth, autonom und frei als politischer Souverän agieren und einen wesentlichen Beitrag zur Demokratie leisten? In diesem Zusammenhang betont Honneth die Bedeutung der fairen Verteilung von Arbeit und von guten Arbeitsbedingungen, um so alle Beschäftigten mit dem Grundmaß an Selbstvertrauen, Wissen und Ehrgefühl auszustatten, das ihnen ermöglicht, ohne Scham und Angst an der gesamtgesellschaftlichen Meinungsbildung teilzunehmen.

Es gibt zahlreiche Studien, die nachweisen, dass, wenn es Erfahrungen von Demokratie am Arbeitsplatz gibt, diese wichtige Effekte haben. Demokratische Organisationsstrukturen und ein wertschätzendes Betriebsklima fördern die pro-sozialen Kompetenzen der Beschäftigten. Auf diese Weise werden Beschäftigte ermutigt, in den Betrieben selbst wie auch in der Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen.

Ein weiterer solcher Kraftort der Demokratie ist die Schule, obwohl sie heute ein sehr umkämpftes Terrain bildet. Da kommen viele Interessen zusammen, das hat mit der Bildungsexpansion zu tun, mit dem Wertewandel auch mit dem in unserer Gesellschaft weit verbreiteten Stress, die Kinder zu „beschäftigungsfähigen“ Menschen zu machen, die in erster Linie auf dem Arbeitsmarkt reüssieren und sich gegen andere durchsetzen können. Der Bildungswissenschaftler Robert Langer hat in einer der letzten Armutskonferenzen die scharfe These aufgestellt, die schulische Bildung werde von privilegierten Gruppen als Werkzeug benutzt, um ihre Privilegien und ihren Status vor dem Zugriff aufstrebender Gruppen abzuschotten. Auch hier also das Thema von mehr Gleichheit, in dem Fall von Bildungschancen. Zu vermeiden ist eine Polarisierung zwischen jenen, die begehrte Bildungsabschlüsse erreichen, und jenen, denen dies verwehrt bleibt.

Auch im Gesundheitswesen und in der Pflege gibt es eine Menge zu beachten, damit diese Bereiche ihrer Bestimmung gerecht werden als Orte, an denen demokratisches Zusammenleben gelernt und gefördert werden kann: Tatsache ist, dass „mächtige Menschen“ (sowohl materiell als auch sozial) es bestens schaffen, sich von Care-Arbeit freizuschaufeln, also von sämtlichen Tätigkeiten des Sich Kümmerns um andere, und diese Tätigkeiten anderen zuschanzen. Männer muten das Frauen zu, Vermögende jenen, die jeden Job annehmen müssen, Menschen, die sich einer höheren Klasse zugehörig fühlen, geben Care-Arbeit ab an Menschen, die sie für weniger wert halten, etwa rassisch; das hört sich vielleicht fremd an, aber es gilt schon zu sehen, in welch hohem Ausmaß migrantische Menschen für die schlecht bezahlte Care-Arbeit zuständig sind.

Vom Gerechtigkeitsstandpunkt her sollten wir in einer demokratischen Gesellschaft aber vorsichtig damit sein, Menschengruppen zu definieren, die wir für besonders geeignet halten für die Care-Arbeit. „Frauen haben das schon immer gerne getan, die sind so gestrickt, die tun das aus Liebe“, heißt es da etwa, oder in Hinblick auf migrantische Menschen: „Die kommen aus Kulturen, wo man mehr Respekt vor alten Menschen hat …“ Mit solchen Zuschreibungen markieren wir Menschen, gleichzeitig hat diese Arbeit in der allgemeinen Wahrnehmung keinen allzu hohen Stellenwert, viele haben von dieser Art Arbeit den Eindruck, es könne sie ohnehin jeder oder besser: jede machen. Wenn wir aber Menschen auf diese Weise markieren, sehen wir sie nicht mehr als politisch gleich; damit haben wir aber wieder ein demokratiepolitisches Problem. Hingegen fördern Erfahrungen von Anerkennung und Selbstwirksamkeit Haltungen, die Bestandsvoraussetzungen für den demokratischen Rechtsstaat, das politische Gemeinwesen sind (Honneth 2023).

Zuletzt seien in diesem Zusammenhang noch Ämter und Sozialeinrichtungen genannt: Auch hier kommen Menschen unterschiedlicher Milieus zusammen, und auch hier sind Ungleichheiten festzustellen, es handelt sich oft um Orte, wo Menschen Ohnmacht, Demütigung und Beschämung erfahren anstatt dass diese Einrichtungen und Behörden Erfahrungsorte wären, wo man sich selbst ernst genommen fühlt, wo man befähigt wird zur sozialen Partizipation und wo man lernen kann, sich selbst als politisches Subjekt wahrzunehmen.

Arbeitwelt, Schule, das Gesundheitswese, Behörden, Pflege- und Sozialeinrichtungen sind also, so kann man zusammenfassend sagen, nicht automatisch gut funktionierende Orte des sozialen Zusammenhalts, sondern es handelt sich um Orte, die sich zu möglichen Kraftorten der Demokratie entwickeln könnten. Man könnte sagen: Baustellen, an denen es gemeinsam zu arbeiten gilt.

Was jedenfalls feststeht: Im Zentrum von Demokratie steht das Recht auf Teilhabe an der politischen Gestaltung! In einer Demokratie zu leben heißt, dass ich mitbestimmen kann, insbesondere dort, wo meine Lebensverhältnisse betroffen sind. Sich für das Recht auf Mitbestimmung aller einzusetzen, die in einem politischen Gemeinwesen leben, ist zeitgemäße und Demokratie stärkende Solidarität.

Soll Demokratie als Regierungs- und Lebensform Zukunft haben, gilt es, gegen die Demokratie gefährdenden Privilegien anderer Widerstand zu leisten und eigene Privilegien in Frage zu stellen. Sich gegen Vermögens- und Einkommensungleichheit einzusetzen, gegen Geschlechterhierarchie, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus – das alles sind Aufgaben, die letztendlich die Demokratie demokratisieren und die ihre Vertiefung und Erweiterung gewährleisten.

Die Langfassung des Einstiegsreferats finden Sie hier

Die Präsentationsfolien der Referentin finden Sie hier

Politologin und Soziologin; als Erwachsenenbildnerin u.a. mitverantwortlich für den „Lehrgang Soziale Verantwortung“, über viele Jahre ein Erfolgsformat der Kath. Sozialakademie Österreichs

Mündige Bürgerinnen und Bürger brauchen für ihre (Wahl-)Beteiligung Wissen und Sachkenntnis sowie Plattformen und Kanäle, um sich über ihre Angelegenheiten zu verständigen: Claus Reitan, ehem. Chefredakteur u.a. der „Tiroler Tageszeitung“, von „Österreich“ und der „Furche“, über die Rolle und Verantwortung der Medien für das gesellschaftliche Miteinander.

Jede Gesellschaft bedarf des Zusammenhalts, jegliche Demokratie bedarf der informierten Bürgerinnen und Bürger. Die Gesellschaft benötigt Plattformen und Bühnen, um sich über ihre Angelegenheiten zu verständigen. Die Bürgerinnen und Bürger benötigen für ihre (Wahl-) Beteiligung Wissen und Sachkenntnis. Nachrichtliche Medien erbringen die dafür erforderliche geistig-kulturelle Dienstleistung. Diese nachrichtlichen Massenmedien sind konstitutiv für die Demokratie. Die Qualität der Demokratie ist mitbestimmt von der Qualität ihrer Vermittlung. Darin liegen Rolle und Verantwortung der Medien für das gesellschaftliche Miteinander.

Dieses gesellschaftliche Miteinander ist unter Druck, allerorten ist von Spaltung die Rede und Schreibe. Nachrichtliche Medien – aber nicht nur diese – haben jedoch, idealtypisch-normativ betrachtet, zum Verständnis von der Welt und zur Verständigung zwischen den Menschen beizutragen. Exogene und endogene Faktoren stehen dem entgegen:

Zu den äußeren Faktoren: Medien wenden sich an ein disperses Publikum und wollen dessen Aufmerksamkeit. Wie wird diese erreicht? Durch Texte und Bilder, die anregend, aufregend, erregend sind.

Zu den inneren Faktoren: Medien – vor allem die Politik-Ressorts – sehen sich in einer Kritik- und Kontrollfunktion. Daraus folgt, dass die gängige Berichterstattung zu Politik hauptsächlich auf das Feld „politics“ (also die politische Auseinandersetzung) gerichtet ist, und etwas weniger auf „policy“ (also die Inhalte und Programme) sowie auf „polity“ (die Institutionen).

Ich nenne ein Beispiel, wie heute „Geschichten“ entstehen: Die Redaktionen heute haben alle so genannte Dashboards an den Wänden, das sind mehrere Bildschirme an der Wand und da können Sie, zum Beispiel über „google“, mitverfolgen, welche Themen online bei den Leitmedien angeklickt werden, und da schauen alle gebannt darauf und sehen, dass bei den Bildungs- und Kulturthemen gehen die Klicks nach unten, aber neue rote Hüte beim Pferderennen in Ascot gehen nach oben; und so bekommen Sie eine Außen- bzw. Fremdsteuerung hinein, dann heißt es: „Diese Geschichte müssen wir machen.“ Das wäre ein Beispiel für die Mechanismen, die zu einer gewissen Dysfunktionalität führen.

Für das gesellschaftliche Miteinander ist die Gesellschaft – als ein kompliziertes und komplexes System zahlreicher Subgesellschaften – zuständig und verantwortlich. Aber Medien werden meiner Meinung nach ihrer anteiligen Rolle und Verantwortung nur dann gerecht, wenn sie sich in diesem Beziehungs- und Informationsgeflecht so positionieren und ausdrücken, dass ihre publizistische Orientierung am Miteinander der Gesellschaft für Bürgerinnen und Bürger erkennbar und nachvollziehbar wird.

Die Niederschrift des Tonprotokolls finden Sie hier

Journalist und Autor; ehem. Chefredakteur der "Tiroler Tageszeitung", von „Österreich“ und der „Furche“, Chefredakteur des Online-Portals Zur-sache.at; Mitbegründer des Österr. Presserats, Vorstandsmitglied des Friedrich Funder Instituts für Publizistik, Medienforschung und Journalistenausbildung, Zert. Nachhaltigkeit & Journalismus. (Foto © Formanek, Wien)

Streitthema Migration: Vielfalt in einer liberalen Demokratie zu fördern, kann gelingen, sagt Magdalena Modler-El Abdaoui, Leiterin des „Hauses der Begegnung“ in Innsbruck – wenn alle Beteiligten Ernsthaftigkeit, Geduld, und Durchhaltevermögen aufbringen.

Als Bildungshaus mit gesellschaftspolitischem Schwerpunkt sind wir zivilgesellschaftlich stark vernetzt in die Landschaft von Vereinen, Organisationen und Institutionen. Wir bieten in unterschiedlichen Formaten mit Kooperationspartner:innen und Referent:innen diversitätssensible Bildungs- und Kulturarbeit an. Wir sind überzeugt: diese Arbeit ist zutiefst demokratiestützend. Wie im Vortrag anhand von Beispielen nachzulesen ist, kann sie gar nicht getragen sein von einem „naiven Gutmenschentum“, das leider oft vorgeworfen wird. Was wir tun, ist nicht selten richtig starker Tobak. Wir brauchen einen sehr klaren Blick auf gesellschaftliche Realitäten wie auch diejenigen, die in Biographien präsent werden; notwendig sind aber auch Ernsthaftigkeit, Geduld, Durchhaltevermögen, Diplomatie und – klingt platt, ist es aber nicht: Fürsorge im Miteinander und Liebe.

Der Mensch ist ausgezeichnet durch verschiedenste Bedürfnisse und ein ganz herausragendes darunter ist die Zugehörigkeit, die Sehnsucht danach, sich verortet zu fühlen, sich als Teil von etwas Größerem zu fühlen; er braucht Orte, die Sicherheit und Geborgenheit vermitteln und die es möglich machen, Erfolg und Scheitern zu balancieren, als Ich wachsen zu können und als Du von anderen wahrgenommen zu werden.

Sehnsucht nach Zugehörigkeit, („longing for belonging“) ist das, was uns allen gemeinsam ist. Diese Grundlage unserer Menschlichkeit scheint mir fundamental wichtig, wenn es darum geht, Zuwandernde aufzunehmen, Menschen mit verschiedenen Verortungen und schon lange Verortete in der Öffnung ihrer Kontexte und Gemeinschaften zu begleiten. Jede und jeder hat das Bedürfnis, dazuzugehören und Sorge für ein größeres Ganzes zu tragen. Nur so können Menschen zu Teilhabenden und Teilgebenden in einer „caring Community“ werden. Nur so, können wir auch in Phasen scheinbar unvereinbarer Klüfte eine geteilte Menschlichkeit zugrunde legen und uns gegenseitig an diese Grundlage erinnern. Dass vielfältige Gesellschaft in einer liberalen Demokratie gelingen kann, das hängt von denen ab, die kommen, und von denen, die schon da sind, unabhängig wie lange. Demokratische Gesellschaft sein und bleiben, bedeutet jeden Tag wieder um die eigenen Fundamente zu ringen – das gelingt nur, wenn wir uns als „lernende Gesellschaft“ begreifen und miteinander immer wieder neu dazulernen, was es heißt, aktive Bürger:innen zu sein und gemeinsam Verantwortung für unser Gesellschaftssystem zu übernehmen. Lassen Sie uns alle daran mitwirken!

Die Langfassung/Tonprotokoll des Statements finden Sie hier

Programmleiterin der Bildungshäuser „Haus der Begegnung“ und St. Michael der Diözese Innsbruck, Religions- und Politikwissenschaftlerin, Forscherin und Praktikerin in gesellschaftspolitischen Aushandlungsfeldern.

In Rumänien dienen Kolpingsfamilien als Praxisorte für die Pflege des gesellschaftlichen Zusammenhalts und stärken so das demokratische System, berichtet der Zentralsekretär des Verbandes, Eduard Dobre.

Bereits im 19. Jahrhundert wurden in den Industriestädten Rumäniens katholische Verbände gegründet, die sich hauptsächlich an Handwerker richteten und das gesamte Spektrum abdeckten: Lehrlinge, Gesellen, Meister, Unternehmer.

Am 27. Oktober 1991 nannte Papst Johannes Paul II. in Anwesenheit von 60.000 Kolpingmitgliedern Adolph Kolping einen „Mystiker der Tat” und würdigte, dass er durch seine Arbeit „das Christentum so weit wie möglich in das wirkliche Leben” gebracht habe. An der Seligsprechungsfeier nahmen sieben rumänische Delegierte teil, es war ihre erste Gelegenheit, andere Delegationen zu treffen. Sie erhielten somit einen ersten Impuls und die Flamme der Bewegung in Rumänien wurde neu entfacht.

Nach der Revolution von 1989 wurden einige der ersten humanitären Transporte nach Rumänien von einer Gruppe von Mitgliedern des Kolping-Familienverbandes Wien-Zentral unter der Leitung ihres Präses, dem Priester Alfred Weiss, organisiert. Die Hilfstransporte kamen in Scholten/Cenade, Kreis Alba, an, wo der evangelische Pfarrer Johann Schaser vorschlug, dass die Hilfsaktion darauf abzielen sollte, die Kolpingbewegung nach Rumänien zu bringen.

Die Stärkung der lokalen Gemeinschaft durch die Gründung von Vereinen erforderte Mut zur Selbsterkenntnis, Vertrauen und Offenheit; dazu wurden zunächst so genannte Sozialseminare organisiert, die in erster Linie darauf abzielten, die eigene Persönlichkeit und die Grundlagen der Zusammenarbeit auf dem Fundament der sozialen Prinzipien des christlichen Lebens zu entdecken: Persönlichkeit, Solidarität, Subsidiarität. Die Persönlichkeit eines jeden Menschen war während der kommunistischen Zeit so stark in Mitleidenschaft gezogen worden, dass diejenigen, die nach Rumänien kamen, bei jedem Menschen das gleiche dringende Bedürfnis feststellten, nämlich der Wunsch nach Entwicklung der Persönlichkeit und des Selbstvertrauens.

Die größte Herausforderung bestand darin, unter den ethnisch und konfessionell Verschiedenen ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Organisation zu schaffen, was einen intensiven Prozess des gegenseitigen Kennenlernens und einen Erfahrungsaustausch zwischen lokalen Vereinigungen aus verschiedenen Regionen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und Einflüssen erforderte. Gleichzeitig war jeder Verband dabei, seine Identität zu entdecken und anzuerkennen. Etwas Neues nahm Gestalt an, nämlich das Profil einer Gemeinschaft im neuen Kontext der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit.

Das Kolping-Modell in Rumänien zeigt, dass es möglich ist, an der Schnittstelle von Kirche und Gesellschaft eine soziale Struktur des Einsatzes zu schaffen, die auf christlichen Grundwerten (Glaube, Liebe, Hoffnung) und den Prinzipien der katholischen Soziallehre (Personalität, Subsidiarität, Solidarität, Gemeinwohl, Nachhaltigkeit) in einem Umfeld ethnischer und konfessioneller Vielfalt basiert und die Innovation und nicht zuletzt das Wohl aller Beteiligten begünstigt.

Eine vom Referenten verfasste umfangreiche Darstellung der Geschichte und Entwicklung von Kolping Rumänien Sie hier

Zentralsekretär/Geschäftsführer von Kolping Rumänien

Ergebnisse einer Podiumsdiskussion, in der Spaltpilze, die die Polarisierung unserer Gesellschaft fördern, ebenso zur Sprache kamen wie die Frage, und wie man ein gesundes geistiges Bodenklima am besten fördern kann.

Spaltpilze kamen zuerst zur Sprache in der von Kolping-Vizepräsident Reinhold Lexer im Rahmen der Bildungskonferenz moderierten ExpertInnen-Runde, etwa Corona. In so einer Pandemie wie auch bei sonstigen strittigen Fragen sei es wichtig, Vertrauen aufzubauen, schlug Politologin Margit Appel vor, „das ist mit dem Babyelefanten und ähnlichen Elementen offensichtlich nicht gelungen“; nachträglich lässt sich sagen, man hätte politisch stärker auf Eigenverantwortung setzen sollen, anstatt mit Zwang zu operieren. Angst zu schüren sei ebenso kein guter Ratgeber gewesen, darauf wies der bekannte Journalist Claus Reitan hin und erinnerte an die Bilder aus Bergamo, da sei es von den Medien verabsäumt worden, diese zu kontextualisieren: „Die Leichenhäuser waren voll, aber die Bestattungen hatten geschlossen, weil sie streikten. In dieser Situation übernahm in Italien automatisch das Bundesheer und diese Bilder gingen dann um die Welt. Dann hat jeder gesagt, stell dir das bei uns vor, und so kam es zu dieser Polarisierung – Tod oder Leben, dafür oder dagegen, und alles, was man dazu gesagt hat, führte sofort zu Feindschaften.“

Gute Zeiten, schlechte Zeiten

Corona, der Krieg in der Ukraine, die großen Fluchtbewegungen: Krisen wie diese als Gesellschaft auszuhalten, könne gelingen, wenn in „guten Zeiten“ Vertrauen geschaffen wird und die Fähigkeit kultiviert wird, mit Vielfalt umzugehen, brachte die Religionswissenschaftlerin Magdalena Modler-El Abdaoui ein und verwies auf die Bedeutung des Zuhörens: „Wir müssen wieder lernen, Zugang finden zu anderen Haltungen und Meinungsverschiedenheiten auszuhalten.“

Um Zuhören und das Pflegen der Bereitschaft, Unterschiede aushalten, geht ihrer Ansicht nach auch beim großen Thema Integration, ebenso ein Bereich, in dem Polarisierungen entstehen; diese zu vermeiden, könne, so die Expertin, sehr gut in Vereinen wie Kolping eingeübt und praktiziert werden: hier würden, inmitten der Zivilgesellschaft, Brücken durch Kommunikation gebaut und Menschen in ein gemeinsam gestaltetes Zusammenleben begleitet.

Als Praxisbeispiel dafür brachte Eduard Dobre, Zentralsekretär von Kolping Rumänien, seinen Heimatverband ins Spiel: „Wir haben das so aufgebaut, dass wir offen sind für andere Menschen. Wir haben Projekte, die dem Gemeinwohl dienen, und es kommen immer wieder Leute zu uns – auch beispielsweise Orthodoxe oder solche, die sonst gar nichts mit Kolping zu tun haben – die sagen, ja, das macht Sinn, hier dabei zu sein und mitzumachen.“ Es brauche solche freien Räume, wo andere hereinkommen und mitmachen können, betonte Dobre, ebenso sei es wichtig, eine globale Perspektive zu gewinnen, „dass wir uns bei Kolping anderen Menschen zuwenden, die kulturell anders sind als wir“.

Impfung gegen Populismus

Es wäre gut, solche Beispiele wie jenes von Kolping Rumänien öfter zu hören, zeigte sich Margit Appel beeindruckt – auch als eine Art Gegengewicht zu einer anderen, weit verbreiteten Sorge: dass wir unsere Identität verlieren würden, wenn wir Vielfalt zulassen und uns öffnen für andere Traditionen und Kulturen. „Was wir bräuchten, wäre eine Immunisierung gegen diese populistische Rede über Identität“, so Appel.

Eine solche Immunisierung bzw. Impfung gegen Populismus gäbe es, nahm Integrationsexpertin Modler-El Abdauoi den Ball auf, es handle sich um die politische Bildung; Bürgerinnen und Bürger müssten parteiunabhängig in ihrem Verständnis als Souverän gestärkt werden: „Wir sind privilegiert, dass wir Demokratie über so viele Jahre hatten, im Unterschied zu anderen Ländern wie zum Beispiel Rumänien, wo sie den Menschen 40 Jahre lang genommen war – und wir müssen wachsam bleiben, damit sie nicht wieder geht.“

An dieser Stelle wurde auch das Publikum eingeladen, sich an der Diskussion zu beteiligen. Es Erster mahnte Meinhard Pargger, Vorsitzender der Kolpingsfamilie Lienz, die Tugend des Respekts ein: „Wir müssen wieder lernen, die Meinung des anderen zu akzeptieren, das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass ich in einen Dialog eintreten kann.“ Kolping sei prädestiniert dafür, eine solche Haltung des Respekts voreinander zu fördern: „Wenn wir dazu kommen, jeden anzuhorchen, auch wenn es zuweilen wehtut, dann sind wir demokratiepolitisch gut unterwegs!“

Zum Schluss warf Kolping-Präsidentin Christine Leopold die Frage auf, wie wir von der Ichbezogenheit wieder zu einem größeren Verständnis für den Wert des gemeinsamen Ganzen kommen könnten. Claus Reitan erinnerte in diesem Zusammenhang auf die Zeit von Politikern wie Reagan und Thatcher und erwähnte den Siegeszug des Wettbewerbs-Prinzips, das seit damals Gesellschaft und Wirtschaft präge: „Natürlich ist das bis zu einem gewissen Grad legitim, aber es stellt sich die Frage, wo stoßen wir hier irgendwo auch an Grenzen?“ Antworten auf diese Frage würden u.a. die große Enzyklika „Laudato si“ von Papst Franziskus und die Globalen Nachhaltigkeitsziele der UNO bieten, „in der Sprache unserer Zeit, bezogen auf die Themen unserer Zeit“, so Reitan.

Stimmen wie diesen in den Medien und in den Köpfen der Menschen wieder mehr Geltung zu verschaffen, sei das Gebot der Stunde, darin war sich die ExpertInnenrunde einig. Was Kolping betrifft: Wir bleiben dran!

Die Langfassung/Tonprotokoll der Podiumsdiskussion finden Sie hier

 

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